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Kann ein Unternehmen, das seit 60 Jahren Gitarrenverstärker produziert, die Musikbranche revolutionieren? Dieser Hersteller traut sich genau das zu.

Marshall gibt den Takt vor

Kann ein Unternehmen, das seit 60 Jahren Gitarrenverstärker produziert, die Musikbranche revolutionieren? Dieser Hersteller traut sich genau das zu.

Das Festival South by Southwest (SXSW) in Austin, Texas, ist ein Schmelztiegel aus Technologie, Film, Musik, Bildung und Kultur. Es ist ein Ort, an dem Themen wie Web3, NFTs und Künstliche Intelligenz nicht nur offen diskutiert werden – sondern größtenteils auch verstanden. Es ist bestimmt keine Bühne für gealterte Rocker, die das psychedelische Flair der 60er Jahre wiederbeleben möchten. Was also hat ein Hersteller von Vintage-Gitarrenverstärkern an diesem Ort zu suchen?

Ganz einfach: Er will die Musikindustrie revolutionieren! Der Name Marshall ist gleichbedeutend mit Rock’n’Roll und Superstars, und das seit Jimi Hendrix. Gegründet wurde das Unternehmen im Jahr 1962 von Jim Marshall, einem Londoner Schlagzeugladenbesitzer. Seitdem fertigt es äußerst laute Verstärker mit einem markanten, knackigen und bissigen Sound. Die Marshall-Boxen, die den weltweit renommierten „Marshall Sound“ erzeugen, sind auf den größten Bühnen und bei den bekanntesten Bands im Einsatz. Nicht schlecht für ein Unternehmen mit weniger als 200 Mitarbeitern, das seinen Sitz in einem unscheinbaren Industriegelände im englischen Bletchley hat.

Aber genug vom Blick in die Vergangenheit, denn jetzt dreht das Unternehmen den Zeiger ... auf 11 (ja, richtig, das ist ein Marshall-Verstärker in der berühmten Szene aus dem Kultfilm „Spinal Tap“). Wie man das macht? Indem man neuen Künstlern das nötige Equipment zur Verfügung stellt, damit sie ihr Potenzial ausschöpfen können, und sie dabei ordentlich bezahlt.

Kein Label von der Stange

Marshall Records vereint eine handverlesene Auswahl unterschiedlicher, aufstrebender Künstler. Unter diesem Dach trifft der rebellische Anti-Establishment-Punk von Bands wie Gen and the Degenerates und Noah and the Loners auf nachdenklichen Pop, Trap-Metal, Grime und einiges mehr. Den bisher prominentesten Vertrag hat die Marke mit der Band Nova Twins unterschreiben: Dieses britische Black-Rock-Duo (mit iranischen, nigerianischen, jamaikanischen und australischen Wurzeln) war letztes Jahr für den begehrten Mercury Prize nominiert und trat 2023 auf der großen „Other Stage“ beim Glastonbury Festival auf.

Aber was Marshall Records wirklich vom Wettbewerb unterscheidet, sind die Tantiemen, die es im Vergleich zu den Major-Labels zahlt. Angesichts der Flut von schnelllebiger Musik, die die Streaming-Plattformen dominiert, will man aufstrebende Stars fördern – unter anderem mit dem legendären Marshall-Equipment, dem Zugang zu einem hochmodernem Tonstudio für Aufnahmen und weiterer Unterstützung während einer Tour. 

„Wir haben eine sehr künstlerfreundliche Politik und zahlen von Anfang an 75 % Tantiemen. Die meisten Labels zahlen 50 % und behalten die Masterrechte für eine sehr lange Zeit", erklärt Steve Tannett, Musikdirektor bei Marshall Amplification. „Wir sind viel mehr daran interessiert, den Künstlern auf ihrem Weg zu helfen. Und wenn sie bei uns bleiben wollen, freuen wir uns natürlich.“

„Gleichzeitig schränken wir die Künstler nicht ein. Wir bestehen zum Beispiel nicht darauf, die Verlagsrechte an der Musik zu übernehmen. Alles, was wir tun, ist auf die Künstler ausgerichtet, denn wir sind der Ansicht, dass die künftigen Stars wachsen und sich entwickeln müssen – und hoffentlich weiterhin gerne Marshall-Equipment nutzen.“

„Das Beste an einem unkonventionellen Label ist, dass du dein Herz und deine Seele in den Rock'n'Roll und die Musik, die durch deine Adern fließt, stecken kannst“, sagt Grime-Künstler Kid Bookie. „Ich war zeitweise verzweifelt und wusste nicht mal, dass ich ein Label wollte. Aber Marshall hatte diese bohrende Art zu fragen: ‚Wer bist du wirklich?‘ Erst auf diese Weise lernt man sich selbst besser kennen und fängt an, Grenzen auszutesten.“

„Darum machen wir diesen Arbeiterklasse-Punk. Kontakte und Beziehungen spielen hier keine Rolle, sondern nur harte Arbeit unter Hochdruck. Und diese Synergie mit Marshall ist überall zu spüren. Das Ergebnis ist ein Ausbruch kontrollierten Wahnsinns. Und sie arbeiten richtig gut mit dem organisierten Chaos – denn das ist die wahre Essenz von Rock'n'Roll.“

Zeit für das Studio

Die Marshall Studios am Firmensitz in der Stadt Milton Keynes, verfügen über ein Live-Studio mit einer Kapazität von 250 Personen. Stapelweise einmaliges Equipment stehen hier neben modernsten Verstärkern. In Anspielung auf die Ursprünge des Unternehmens ist der Raum von Jim Marshalls altem Schlagzeugladen inspiriert, wo (einst) einst kreative Gespräche mit Rockstars wie Pete Townshend von The Who stattfanden.

Hier findet man auch die kürzlich gegründete Marshall Live Agency. Die Finanzkrise 2007/2008 und die Corona-Pandemie hatten verheerende Folgen für die gesamte Konzertszene. Die Live Agency unterstützt ihrerseits künftige Crews und Veranstalter. „Ich bin seit 15 Jahren in diesem Geschäft und oft wird die Leistung eines Agenten nur an den erzielten Gagen gemessen“, sagt Stuart Vallans, Chef der Marshall Live Agency. „Marshall hat das über Bord geworfen; so arbeiten wir nicht. Die Leistung der Agentur wird darauf gemessen, wie viele Menschen wir in die Konzerte holen, um Musik live zu erleben. Es ist ein ziemlich tolles Gefühl, das Richtige zu tun, die Bedürfnisse von Künstlern und Veranstaltern an die erste Stelle zu setzen und dafür Rückendeckung zu bekommen.“

„Dank unseres Labels konnten wir eines der unserer Meinung nach besten Tonstudios in England aufbauen“, fügt Tannett hinzu. „Mit dem Studio und der Marshall Live Agency bilden wir ein Netzwerk um die Künstler, eine echte Community. Das ist viel mehr als andere Plattenfirmen bieten können.“

Diversifizierung in Aktion

Es ist kein Geheimnis, dass die Musikindustrie immer wieder Rückschläge hinnehmen musste. Wie kann sich Marshall das alles leisten? Durch ein florierendes Geschäft mit Kopfhörern und Lautsprechern!

„Jim [Marshall] ist 2012 verstorben und das Unternehmen befand sich nicht in der besten Lage. Die Finanzkrise von 2007/2008 wirkte sich etwa fünf Jahre später auf die Musikindustrie aus, also mussten wir das Geschäft diversifizieren“, erklärt Alex Coombes, Geschäftsführer von Marshall Amplification.

„Unsere Kopfhörer und Lautsprecher erwiesen sich als äußerst erfolgreich und so konnten wir das Geld wieder in das Musikgeschäft stecken. Wir befanden uns in einer privilegierten Position und überlegten, wie wir etwas zurückgeben konnten. Wir haben Glück, wir machen Gewinn, wir müssen keine Schulden bedienen – also lasst uns einfach das Richtige tun. Natürlich gewinnen wir doppelt, wenn Künstler mit unseren Produkten auftreten. Aber wir haben noch nie jemanden dafür bezahlt! Diese Frage hören wir ständig, aber Fakt ist: Wir haben weder Slash noch sonst jemanden dafür bezahlt, unsere Verstärker zu benutzen." 

Das neu aufgestellte Unternehmen unterstützt auch Initiativen wie die gemeinnützige Organisation Women in Vinyl mit dem Ziel, Frauen, weiblich identifizierte, nicht-binäre, LGBTQ+, BIPOC und anderweitig marginalisierte Menschen in der Branche weiterzubilden und in die Lage zu versetzen, die Kunstform Musik auf Vinyl zu erschaffen, zu erhalten und voranzubringen. Durch die Finanzierung von Praktikumsprogrammen, Aus- und Weiterbildungen sowie Zugang zu exklusiven Veranstaltungen soll die nächste Generation von Produzenten, Toningenieuren und sogar Plattenladenbesitzern auf den Weg gebracht werden.

„In der Vergangenheit ging es bei Marshall nur um Rock und Metal und es war eine von weißen Männern dominierte Branche“, sagt Coombes. „Heute versuchen wir, daraus zu lernen und die Grenzen zu verschieben. Einige der Möglichkeiten, die wir nutzen, ist zum Beispiel mit Trans-Künstlern zu arbeiten. Wir wollen den Leuten vermitteln, dass man alles sein kann, was man will."

„Deshalb sind die Nova Twins zu uns gekommen – weil sie die öffentliche Wahrnehmung verändern wollten. Es ist wichtig, dass andere Plattenfirmen das hören, denn es gibt immer wieder Geschichten über Alben, die begraben werden, weil sie den A&R-Leuten nicht passen.“

„Dieses Ethos gab es in den 1980er und 1990er Jahren noch nicht. Es war damals ein anderes Geschäft ", ergänzt Tannett. „In der heutigen Musikszene will ich Vielfalt sehen. Viele Leute in der Branche tun sich immer noch schwer, das zu verstehen und sagen: ‚So machen wir das hier nicht.‘ Nun, bei Marshall ist das anders. Und hoffentlich wird das etwas bewegen."

Fotocredit: Marshall

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